Eine wegweisende Studie, veröffentlicht in der renommierten Fachzeitschrift Nature Neuroscience, hat wichtige Erkenntnisse darüber geliefert, wie widrige Umwelteinflüsse im Verlauf des Lebens zu anhaltenden Veränderungen in der Struktur des menschlichen Gehirns führen können. Forscherinnen und Forscher des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim sowie des Donders Institute for Brain, Cognition and Behaviour in den Niederlanden haben herausgefunden, dass verschiedene Arten von Widrigkeiten, die von der pränatalen Zeit bis zum Erwachsenenalter reichen, eine dauerhafte neurobiologische Signatur im Gehirn hinterlassen können.
MRT-Scans im Alter von 25 und 33 Jahren
Die Forschenden verwendeten einen innovativen Ansatz, der auf maschinellem Lernen basiert und ähnlich funktioniert wie Wachstums- und Gewichtskurven, die in der Kinderheilkunde verwendet werden, um den individuellen körperlichen Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen einzuordnen. Sie analysierten eine Gruppe von Personen, die von Geburt an bis ins Erwachsenenalter begleitet wurden und ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen aufwiesen. Die Widrigkeiten, denen diese Personen ausgesetzt waren, reichten von Komplikationen bei der Geburt über familiäre Probleme bis hin zu traumatischen Ereignissen. Mithilfe von MRT-Scans untersuchten die Forschenden die strukturellen Veränderungen im Gehirn dieser Personen im Alter von 25 und 33 Jahren und verglichen diese mit der altersbedingten Entwicklung des Gehirns, die auf Grundlage von 20.000 Personen erstellt wurden.
Weitreichende Veränderungen im Gehirn
Die Studie ergab, dass im Alter von 25 Jahren weitreichende Veränderungen im Gehirn festgestellt wurden, die mit Belastungen in früheren Lebensphasen zusammenhängen. Diese Veränderungen waren auch im Alter von 33 Jahren nachweisbar. Die Ergebnisse konnten in einer unabhängigen Gruppe von Personen mit ähnlichen Belastungen reproduziert werden. Interessanterweise führten verschiedene Arten von Widrigkeiten zu unterschiedlichen Mustern von Veränderungen im Gehirn. Zum Beispiel hingen psychosoziale Widrigkeiten mit einer beschleunigten Entwicklung in den limbischen Regionen zusammen, während Komplikationen bei der Geburt mit einer verzögerten Gehirnentwicklung in Verbindung standen.
Besonders bedeutsam ist, dass Personen, deren Gehirnvolumen stärker von den erwarteten Veränderungen aufgrund von Widrigkeiten abwich, ein erhöhtes Risiko für Angstsymptome aufwiesen. Dies legt nahe, dass neurobiologische Veränderungen, die über das vorhergesagte Muster hinausgehen, zu psychischen Problemen beitragen könnten.
Individuelle Risiken besser vorhersagen
Die Ergebnisse dieser Studie liefern wertvolle Einblicke in die Verbindung zwischen Umwelteinflüssen, Gehirnentwicklung und psychischer Gesundheit. Die entwickelten Modelle könnten dazu beitragen, individuelle Risiken für psychiatrische Erkrankungen besser vorherzusagen und möglicherweise gezielte Behandlungsansätze zu entwickeln.
„Unsere Studie zeigt, dass Widrigkeiten im Lebensverlauf eine prägende Wirkung auf die Struktur des Gehirns haben können. Das eröffnet neue Möglichkeiten für die Vorhersage und das Verständnis von Gehirnveränderungen, die psychischen Erkrankungen zugrunde liegen“, sagt Dr. Nathalie Holz, Forscherin am ZI und Erstautorin der Studie. Auf diese Weise könnte es beispielsweise möglich werden zu verstehen, warum manche Menschen, die im Laufe ihres Lebens Widrigkeiten erleben, psychische Erkrankungen entwickeln, andere dagegen nicht.
Publikation:
Holz, N.E., Zabihi, M., Kia, S.M. et al.: A stable and replicable neural signature of lifespan adversity in the adult brain. Nat Neurosci 26, 1603–1612 (2023). https://doi.org/10.1038/s41593-023-01410-8