1975
Die Enquête-Kommission legt ihren im Auftrag des Bundestags verfassten Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland vor. Sie fordert eine grundlegende Reformation der psychiatrischen Versorgung in Deutschland und empfiehlt:
- Die Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker
- Die getrennte Versorgung für psychisch Kranke und geistig behinderten Menschen
- Die Versorgung psychisch Kranker und Menschen mit einer Behinderung im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsversorgung
- Die Umstrukturierung der großen psychiatrischen Krankenhäuser
- Eine gemeindenahe Versorgung
- Die Förderung von Beratungsdiensten und Selbsthilfegruppen
- Die Förderung der Aus-, Fort- und Weiterbildung

Die Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker war von hoher Dringlichkeit, denn die gesetzlichen Krankenkassen mussten nur die Hälfte der Kosten einer die Akutbehandlung überschreitenden Klinikunterbringung bezahlen. Die andere Hälfte wurde – wenn der/die Betroffene nicht selbst zahlen konnte – vom Sozialleistungsträger übernommen und später per Regress von der erkrankten Person oder ihrer Familie eingetrieben.
Im Jahr 2015 urteilte Heinz Häfner: „Seit Veröffentlichung des Enquête-Berichts haben sich in der Bundesrepublik das Schicksal psychisch Kranker, die psychiatrischen Einrichtungen und das Gesicht der Psychiatrie grundlegend verändert. Einer der bedeutendsten Erfolge der Enquête war jedoch immaterieller Natur: Ein tiefgreifender Mentalitätswandel bei der Mehrzahl der in der psychiatrischen Krankenversorgung Tätigen und im Zusammenhang damit ein grundlegend veränderter Umgang mit den psychisch Kranken. Ich hoffe nur, dass dies mit der wachsenden Bürokratisierung und der Monetarisierung der Gesundheitsversorgung in Deutschland nicht wieder verlorengeht.“
Lesen Sie hier mehr zur Enquête-Kommission und zur Psychiatriereform:
Psychiatriereform in Deutschland. Vorgeschichte, Durchführung und Nachwirkungen der Psychiatrie-Enquête. Ein Erfahrungsbericht. (ein Rückblick von Heinz Häfner)
Der Weg zur Psychiatrie-Enquete
Blickt man heute auf die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in Deutschland, so muss man feststellen, dass die im Kommissionsbericht formulierten Ziele bisher nur anteilig und in unterschiedlichem Maß erreicht werden konnten. Die Psychiatrie ist – vor allem auch Dank der Entdeckung und Einführung von wirksamen Medikamenten – von einer bewahrenden zu einer Therapeutischen Disziplin geworden. Wirksame Psychotherapie- und Rehabilitationsverfahren wurden und werden entwickelt, erforscht und angewendet. In etlichen Gebieten konnte das gemeindepsychiatrische Modell etabliert werden. Die Aufenthaltszeiten im stationären Bereich sind heute deutlich kürzer, ambulante und tagesklinische Behandlungen sind zum Standard geworden und Tracks ermöglichen eine individuell angepasste Langzeitbetreuung.
Im Rahmen der stationsäquivalenten Behandlung können schwerer erkrankte Menschen auch zu Hause behandelt werden. Die Psychiatrie ist integraler Teil der medizinischen Fächer geworden. Eine stärkere Präsenz in der allgemeinen medizinischen Ausbildung ist jedoch nach wie vor wünschenswert. Bestimmte psychische Erkrankungen, allen voran Depressionen, haben durch mediale Aufklärung ihr Stigma teilweise verloren. Andere, schwere Erkrankungen wie Schizophrenie und Psychosen gehen nach wie vor mit Ängsten, Unsicherheiten und Vorurteilen einher, die die Betroffenen und ihr Umfeld stark belasten. Die neuropsychiatrische Forschung hat seit 1975 immense Erkenntnisse gewonnen und steht auch Dank Technologien wie Bildgebung, Genetik, Stammzellforschung, Maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz vor einem weiteren, enormen Zuwachs an Wissen. Die Komplexität des menschlichen Gehirns und seiner Prozesse stellt weiterhin eine faszinierende Herausforderung dar.
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) - https://www.zi-mannheim.de