Wie wirken sich die einzelnen Wellen der Corona-Pandemie auf das Wohlbefinden der Menschen aus? Dieser Frage geht das Psychoepidemiologische Zentrum (PEZ) am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) mit dem Studienprojekt Digi-PEZ nach. Neben ersten Ergebnissen liegt bereits ein Konzept vor, wie solche Daten künftig zur Prävention psychischer Erkrankungen eingesetzt werden können.
Studie mit gesunden und psychisch erkrankten Menschen
„Wir wissen, dass die Corona-Pandemie schwere Auswirkungen auf die Bewegungs- und Entfaltungsfreiheit, das Wohlergehen und die psychische Gesundheit der Bevölkerung hat”, sagt Prof. Dr. Heike Tost, Leiterin des Psychoepidemiologischen Zentrum am ZI, das an der Medizinischen Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg, ansässig ist. Was jedoch bislang gefehlt habe, sagt die Psychiaterin, waren genaue und belegbare Zahlen darüber, wie stark und auf welche Weise die Psyche der Menschen von den pandemiebedingten Veränderungen belastet wird. Das Zentrum, spezialisiert auf Alltagsdatenerhebungen, hat daher das Projekt Digi-PEZ ins Leben gerufen. „Mithilfe von Digi-PEZ erfassen wir soziale und individuelle Einflussfaktoren auf das Verhalten und Erleben von Menschen im Alltag”, sagt Tost. Bezogen auf die Pandemie will ihr Team wissen: Was macht es mit den Menschen, und zwar mit gesunden als auch solchen mit psychischen Erkrankungen, wenn plötzlich Restaurants und Kinos geschlossen, Treffen in größerer Runde nicht mehr möglich sind, Reisen reduziert werden müssen? Wenn TV-Bilder von Särgen, wie aus Bergamo zu Beginn der Pandemie, sie erreichen? Wie reagieren sie auf die Vorgaben und veränderte Lebensumstände in den einzelnen Wellen der Pandemie?
Gefühlszustände erfassen
Zu den 300 bis 400 ausgewählten Studienteilnehmenden gehören vor allem Patienten und Patientinnen mit psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Depressionen oder Schmerzstörungen, aber auch gesunde Menschen. Letztere machen etwa 25 Prozent der Teilnehmenden aus und bilden die Kontrollgruppe.
Erfasst werden zum einen die tagesaktuellen Gefühlszustände der Teilnehmenden. Dafür ist auf ihren Smartphones eine Tagebuch-App installiert, die sie täglich – in manchen Studienphasen auch bis zu sechs Mal pro Tag – per Push-Nachricht nach ihrer Gemütslage befragt. Die TeilnehmerInnen wählen auf einer Skala einen Wert aus, je nachdem ob sie sich gerade ruhig oder unruhig fühlen, ihre Stimmung eher als gedrückt oder gehoben beschreiben würden; die Daten werden ans PEZ übertragen. Um noch mehr über die Gefühlssituation der Probanden zu erfahren, werden die Tagebucheintragungen durch Gespräche und Fragebögen ergänzt. Zusätzlich werden die Bewegungsmuster der Probanden mit Hilfe von Sensoren aufgezeichnet. Tost sagt: „So wollen wir feststellen, ob eine geringere Bewegungsaktivität, also weniger Aktivitäten im Außen, ein brauchbarer Indikator für eine Befindlichkeitsveränderung sein könnte.”
Erste Ergebnisse zeigen: Psychisch kranke Menschen erleichtert über Lockdown-Regeln
Noch sind die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit den Auswertungen beschäftigt. Doch für die erste Welle der Pandemie liegen bereits zwei interessante Erkenntnisse vor. „Wir sind mit der Hypothese in die Untersuchungen gegangen, dass sich das Befinden bei den ohnehin bereits psychisch erkrankten Patienten durch die Pandemiesituation verschlechtern würde”, sagt Tost. Dass also eventuell ihre Angstzustände zunehmen, sich in ihnen eine noch größere Unruhe breitmachen würde. Doch das scheint nicht der Fall zu sein: „Konträr zu unserer Erwartung haben die Patienten nicht mit einer akuten Verschlechterung reagiert.” Mehr noch: In den Gesprächen gaben die TeilnehmerInnen an, durch die geltenden Lockdown-Regeln weniger unter dem Druck zu stehen, an sozial verpflichtenden Veranstaltungen, etwa betrieblichen Weihnachtsfeiern, teilnehmen zu müssen. „Da war sehr viel Erleichterung zu spüren”, sagt Tost.
Dem stehen die Erfahrungen der gesunden Menschen gegenüber, die sehr wohl, gerade in der ersten Welle, als die Bilder aus Norditalien durch die Medien gingen, mit einer Verschlechterung ihrer emotionalen Befindlichkeit reagiert haben: Sie waren unruhiger und verspürten mehr Ängste, auch wenn diese nicht zwangsläufig als pathologisch einzustufen waren.
Die Zukunft heißt: Prävention
Noch während die Auswertungen laufen, hat das Team um Prof. Dr. Heike Tost ein Konzept erstellt, wie solche Erhebungen den Patientinnen und Patienten, aber auch gesunden Menschen helfen können. Möglich wäre es Tost zufolge etwa, die Befindlichkeit der Patienten kontinuierlich zu messen und die Auswertungen über einen Server mit einer Art Alarmsystem zu koppeln. „Wird eine Abweichung vom individuellen Mittelwert detektiert, könnte dem Patienten ein Signal aufs Handy geschickt werden, verbunden mit einem Hinweis, wohin er sich bei Bedarf zur Beratung wenden kann, etwa an die für ihn zuständige Ambulanz.” Nicht nur für die PatientInnen, die ja meist schon in therapeutischer Betreuung sind, auch für die Allgemeinbevölkerung könnte so ein Angebot hilfreich sein. Verschlechtere sich ihr Befinden, könnten sie per Push-Nachricht Informationen über nahegelegene Beratungsstellen, Hilfetelefone oder Selbsthilfegruppen erhalten. „Das wären gute und gangbare Ansätze der Prävention”, sagt Tost. Mit der Veröffentlichung der Studiendaten und der Fertigstellung des Konzepts rechnet die Wissenschaftlerin bis Ende des Jahres.
Förderung durch die Landesregierung Baden-Württemberg
Das Digi-PEZ wird unter dem Dach des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg durch die Landesregierung gefördert, da es einen neuen, inhaltlich an die Pandemie angepassten Zugang zur digitalisierten Diagnostik und Frühintervention psychischer Erkrankungen bietet. Das Studienkonzept ist auf die Standorte der Kollaborationspartner des ZI im Land übertragbar und verstärkt damit den Gesundheitsstandort Baden-Württemberg und seine Vorbildfunktion in der Personalisierten Medizin in Deutschland. Die Förderstufe für 2021/2022 beträgt 450.000 Euro.