Start |Jubiläum 50 Jahre ZI|Auf dem Weg zu einer maßgeschneiderten Therapie
Fotografie eines Maßbandes
Der Blick in die Zukunft

Im Mittelpunkt der Mensch: Auf dem Weg zu einer 
maßgeschneiderten Therapie. 

Vor 50 Jahren startete das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim mit einem neuen und visionären Konzept. Seither hat es sich dynamisch weiterentwickelt. Heute ist das ZI bestens gerüstet, um Antworten auf die entscheidenden Fragen der Psychiatrie des 21. Jahrhunderts zu finden. Das Ziel ist es, die Therapie psychisch erkrankter Menschen und die psychische Gesundheit insgesamt fundamental zu verbessern.

Herr Professor Meyer-Lindenberg, erlauben Sie einen Blick zurück. Die weltweit erste psychiatrische Klinik, der sogenannte Narrenturm, wurde im Jahr 1784 außerhalb der Stadtmauern von Wien errichtet. Für was steht diese Einrichtung in der Geschichte der Psychiatrie?

professor dr. andreas meyer-lindenberg:Das ist ein Symbol dafür, wie es psychisch erkrankten Menschen über die Jahrhunderte hinweg ergangen ist: Sie wurden ausgegrenzt, weggesperrt, aus der Gesellschaft ausgegliedert, isoliert, sprachlich diffamiert. Das zieht sich quer durch die Geschichte der Psychiatrie. Die entscheidende Enthospitalisierung chronisch psychisch Erkrankter ereignete sich erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Damals setzte sich der Gedanke durch, dass psychisch erkrankten Menschen eine Unterbringung in solchen Verwahranstalten mehr schadet als nutzt.

In welchem Zustand war die Psychiatrie in Deutschland Mitte des vergangenen Jahrhunderts?
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es hierzulande große Missstände: Auch bei uns fand Psychiatrie meist weit vor den Toren der Stadt in Anstalten statt, die in einem schlechten Zustand waren. Es gab Schlafsäle mit Dutzenden von Patienten, die dort unter elenden Zuständen lebten. Psychisch kranke Menschen wurden aus ihren Familien und aus ihrem Umfeld herausgerissen und in den Einrichtungen für lange Zeit festgehalten, ohne dass therapeutisch viel passierte.

Die Missstände führten dazu, dass sich ab den 1960er-Jahren eine Kommission von Sachverständigen im Auftrag des Deutschen Bundestags intensiv damit auseinandersetzte, wie es bei uns um die Behandlung psychisch Erkrankter steht. Der Bericht der Psychiatrie-Enquête zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung in der Bundesrepublik erschien im September 1975.

Mit welchem Ergebnis?
Der Bericht legte schwerwiegende Mängel bei der Versorgung psychisch Erkrankter offen.

Und was war die Konsequenz?
Die Psychiatrie-Enquête hat einen Gegenentwurf zur verwahrenden Psychiatrie entwickelt. Ein wesentlicher Punkt war, dass Psychiatrie nicht vor den Toren der Stadt stattfinden darf, sondern dort, wo die psychisch Erkrankten leben. Die Psychiatrie muss gemeindenah sein, wie wir heute sagen.

Womit wir beim ZI wären – es wurde 1975 in der Mannheimer Innenstadt gegründet.
Das ZI war so etwas wie ein Modellinstitut der Enquête. Hier sollte der Gegenentwurf konkretisiert und gelebt werden, also Psychiatrie nicht draußen vor den Toren, sondern inmitten der Bevölkerung einer Stadt bei enger Verschränkung von Versorgung der Erkrankten, Forschung und Lehre. Das war die Idee, und sie war damals visionär. Deshalb sind wir heute da, wo wir sind, und tun das, was wir tun.

Das Konzept ist 50 Jahre alt.
Und es ist nach wie vor ein kluges, ein nachhaltig wirksames Konzept, weil sich die drei entscheidenden Bereiche Forschung, Krankenversorgung und Lehre unter einem Dach befinden und sich gegenseitig befruchten. Das übergeordnete Ziel ist es, Menschen mit psychischen Erkrankungen besser zu helfen und die seelische Gesundheit wirksam zu fördern. Dazu gilt es, Spitzenforschung und Spitzenmedizin eng miteinander zu verknüpfen, damit Patientinnen und Patienten so schnell wie möglich von neuen Erkenntnissen profitieren können. Der moderne Begriff dafür heißt Translation.

Das bedeutet?
Es bedeutet, dass Fragen, die sich aus der Behandlung von Patientinnen und Patienten ergeben, gezielt in die Forschung rückgespielt werden, damit dort Lösungsansätze erarbeitet werden, die möglichst schnell und direkt in die Behandlung der Menschen zurückfließen. Translation – so verstanden – ist also ein Kreislauf. Bei uns am ZI betreiben wir diese Art der Umsetzung, die translationale Medizin, von Anfang an.

Wie würden Sie das derzeitige ZI charakterisieren?
Wir sind heute Deutschlands größte Forschungsinstitution in den Bereichen Psychiatrie, Psychotherapie und Neurowissenschaften. Und laut einschlägiger Kennzahlen, etwa dem erfolgreichen Einwerben von Drittmitteln oder der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen in hochkarätigen Forschungsjournalen, spielt das ZI auch europaweit in der oberen Liga.

„was wir erreichen wollen, ist eine präzisionsmedizin, eine personalisierte medizin: jeder psychisch erkrankte soll individuell bestmöglich behandelt werden.“ 

Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Vorstandsvorsitzender des ZI
 

Wie sieht es heute mit der seelischen Gesundheit der Menschen in Deutschland aus?
Die Zahlen zeigen: 40 Prozent aller Bundesbürger werden im Laufe ihres Lebens eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung entwickeln. Das ist die aktuelle Situation. Die dadurch bedingten gesellschaftlichen und finanziellen Lasten sind enorm, insbesondere für die junge und arbeitende Bevölkerung. Bis zu 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehen laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde auf das Konto psychischer Erkrankungen – eines medizinischen Gebiets von hohem Komplexitätsgrad.

Was macht das Gebiet so komplex?
Psychische Erkrankungen müssen biopsychosozial verstanden werden. Das heißt, wir haben es zum einen mit der biologischen Ebene zu tun, mit der Hardware sozusagen, also den Erbanlagen und dem Gehirn, dem komplexesten Organ, das wir kennen mit Milliarden von Nervenzellen, die über Hunderte Milliarden von Verbindungen miteinander vernetzt sind. Wir haben es zum andern mit der Psyche des Menschen zu tun – bekannterweise nicht weniger komplex. Hinzu kommen die Einflüsse der Umwelt und der Gesellschaft auf das Individuum. Das Gebiet ist enorm vielschichtig. Das macht unser Fach so spannend – und so herausfordernd.

Was zählen Sie aktuell zu den größten Herausforderungen?
Es hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen sehr viel getan. Die neuen wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse gilt es nun in unser translationsmedizinisches Konzept aufzunehmen. Es geht auch darum, die Komplexität zu strukturieren. Eine zentrale Frage ist etwa, wie es zu psychischen Erkrankungen überhaupt kommt. Das lässt sich – wie bei allen anderen Erkrankungen auch – ergründen, indem man die genetischen und körperlichen Ursachen und das Zusammenspiel mit Umweltfaktoren erforscht. Uns interessiert: Unter welchen Bedingungen wird ein Mensch psychisch krank? Und umgekehrt: Was schützt einen Menschen davor, psychisch zu erkranken? Wie kann es gelingen, die Widerstandskraft, die Resilienz, gegenüber krankmachenden Faktoren zu erhöhen? Das sind Fragen, auf die wir Antworten finden wollen.

In den entsprechenden Forschungsbereichen war das ZI schon immer aktiv.
Ja, wir werden die Arbeiten weiter intensivieren. Der gemeinsame Nenner aller unserer Forschungsanstrengungen ist, die experimentell-medizinische und mechanistisch-neurowissenschaftliche Forschung zu verknüpfen. Das übergeordnete gemeinsame Ziel ist, bisherige Therapien zu verbessern, neue Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln und effektive Wege zur Prävention aufzuzeigen.

Gibt es dafür ein konkretes Beispiel?
Es gibt dafür viele Beispiele. Nehmen wir exemplarisch die psychiatrische Genetik. Hier geht es darum, erbliche Risiko- und Schutzfaktoren zu identifizieren und bislang unbekannte Gene für psychische Erkrankungen aufzuspüren. Eine aktuelle Studie weist etwa nach, dass bestimmte Genvarianten das Risiko erhöhen, eine Borderline-Persönlichkeitsstörung zu entwickeln. Die sich daran unmittelbar anschließende Forschungsfrage gilt den biologischen Mechanismen: Auf welche Weise tragen die Gene zur Borderline-Störung bei? Welche molekularen Kausalketten, welche Zielmoleküle gibt es, an denen man medikamentös präzise ansetzen könnte? Und schließlich: Wie spielen die Gene mit der Umwelt zusammen, etwa mit belastenden Lebensereignissen oder frühkindlichen Traumatisierungen?

Einer Ihrer eigenen Forschungsschwerpunkte gilt dem Einfluss der Umwelt auf psychische Erkrankungen.
Wir wollen verstehen, wie Umwelt-, Risiko- und Schutzfaktoren konkret funktionieren. Dazu betrachten wir den Einfluss verschiedener Lebenswelten, etwa das Leben in der Stadt. Wer in der Stadt lebt – das wissen wir schon lange – läuft eher Gefahr, psychisch zu erkranken. Dieses Phänomen findet sich weltweit: Bei Stadtbewohnerinnen und -bewohnern kommen Angsterkrankungen und Depressionen etwa 30 bis 40 Prozent häufiger vor. Menschen, die in einer Stadt aufgewachsen sind, erkranken dreimal häufiger an Schizophrenie als Menschen auf dem Land. Die Forschungsfragen sind: Warum ist das so? Wie wirkt sich die Lebenswelt Großstadt auf die psychische Gesundheit ihrer Bewohner aus? Was genau ist es, das beim Leben in der Stadt krank macht? Und mit welchen Maßnahmen lässt sich die seelische Gesundheit von in der Stadt lebenden Menschen verbessern?

Und was wissen Sie mittlerweile darüber?
Wir waren Pioniere im Verständnis der Zusammenhänge von Stadtleben und Psyche. Mit modernen bildgebenden Verfahren konnten wir etwa zeigen, dass Stress und Emotionen bei Menschen aus der Großstadt anders verarbeitet werden. Ihr Gehirn reagiert deutlich empfindlicher auf Stress. Und ein wesentlicher Stressfaktor in der Stadt ist die soziale Isolation – 80 Prozent der Menschen in der Stadt kennen ihre Nachbarn nicht. Aus solchen Erkenntnissen lassen sich Präventionsstrategien entwickeln.

Einsamkeit in der Großstadt als Risikofaktor für seelische Erkrankungen?
Einsamkeit ist ein vielschichtiges Phänomen, in urbanen Räumen kann es besonders ausgeprägt sein. Und es ist ein bedeutender gesundheitlicher Risikofaktor. Die Forschung zeigt, dass Menschen, die einsam leben, früher sterben. Einsamkeit ist verbunden mit einer größeren Gefährdung für koronare Herzkrankheit, Schlaganfälle und Demenz. Und einsame Menschen sind anfälliger für Depressionen.

Welche Schutzfaktoren vor psychischen Erkrankungen in der Stadt gibt es?
Unsere Forschungsarbeiten zeigen, dass sich Grünflächen wie Parks oder Bäume am Straßenrand positiv auf das psychische Wohlbefinden auswirken. Menschen, die in Naturnähe leben oder regelmäßig Zeit im Freien verbringen, berichten von weniger Stress, besserer Stimmung und einer höheren Lebenszufriedenheit. Die Forschung legt nahe, dass der Aufenthalt in der Natur körperliche Stressreaktionen reduziert. Messungen von Stresshormon-Spiegeln und der Herzfrequenz deuten darauf hin, dass natürliche Umgebungen helfen können, Stress abzubauen und Angstzustände zu verringern. Grünflächen fördern nicht nur die individuelle psychische Gesundheit, sondern auch die soziale Interaktion. Sie bieten Raum für gemeinschaftliche Aktivitäten und stärken das Gefühl der Zugehörigkeit innerhalb einer Gemeinschaft. Auch das hat positive Effekte auf die mentale Gesundheit. All diese Forschungsergebnisse unterstreichen, wie wichtig eine kluge Stadtplanung und ein achtsamer Umgang miteinander sind.

Und was tut das ZI dafür?
Aus der Forschung wissen wir, dass Menschen, die lange einsam gewesen sind, soziale Interaktionen anders wahrnehmen. Sie entwickeln die Tendenz, das soziale Miteinander negativer wahrzunehmen, als es eigentlich ist, und sie interpretieren Gesichtsausdrücke, Äußerungen abweisender, als sie gemeint sind. Hier können Teufelskreise entstehen, die wir mit therapeutischer Hilfe durchbrechen wollen. Solche Angebote sind am ZI verfügbar. Das bereits seit Langem bestehende gemeinde- und sozialpsychiatrische Angebot des ZI vernetzt sich aktiv in die Stadt hinein. Es ist sozusagen in die DNA des ZI eingeschrieben, dass wir als Netzwerker in die Stadt und in die Kommunen hineinwirken und damit nicht nur psychische Erkrankungen, sondern auch Themen wie sozialen Stress und Einsamkeit angehen. Hinzu kommen kommunale Initiativen, beispielsweise die Mannheimer Initiative Keiner bleibt allein oder das Projekt Mannheim gegen Einsamkeit. Solche Projekte sind entscheidend wichtig und flankieren das, was Individuen und Therapeuten tun können. So drückt sich Forschung konkret in der praktischen Umsetzung zum Wohle der Menschen aus.

Sie haben bildgebende Verfahren als wichtige Werkzeuge der Forschung genannt – welche Rolle spielt die Bildgebung in der modernen Neurowissenschaft?
Eine sehr große. Bildgebende Verfahren, allen voran die Positronen-Emissions-Tomografie, kurz PET, und die funktionelle Magnetresonanztomografie, kurz fMRT, erlauben es uns heute, in das lebende Gehirn mit hoher Präzision hineinzuschauen. Das gibt uns Aufschluss darüber, wie das Gehirn arbeitet, und lässt uns die neurobiologischen Grundlagen psychischer Störungen nachvollziehen. Auch wie Medikamente im Gehirn wirken oder wie sich Hirnaktivität während einer Psychotherapie verändert, lässt sich mit bildgebenden Verfahren untersuchen. Deutschlandweit waren wir das erste Institut, das in der Psychiatrie intensiv mit bildgebenden Verfahren gearbeitet hat. 
Eine technische Neuerung, über die wir uns sehr freuen, ist ein MRT-Gerät mit einem Magnetfeld von sieben Tesla. Herkömmliche Geräte arbeiten in der Regel mit drei Tesla. Diese Ultrahochfeld-Bildgebung erlaubt eine deutlich bessere räumliche und zeitliche Auflösung. Kombiniert mit weiteren Verfahren kann das 7-Tesla-MRT die Struktur, Funktion und den Stoffwechsel des Gehirns in einer völlig neuen Qualität darstellen. Dass das bei uns möglich ist, verdanken wir der großzügigen Förderung der Heidelberger Klaus Tschira Stiftung.

„wir hoffen, die gruppe psychisch erkrankter menschen, die man heilen kann, künftig erheblich vergrößern zu können.“

Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Vorstandsvorsitzender des ZI

 

Was kennzeichnet die moderne psychiatrische Forschung darüber hinaus?
Da sind in der Grundlagenforschung zum einen Tiermodelle zu nennen, also Untersuchungen an Mäusen und Ratten. In der Psychiatrie sind Tiermodelle nicht so einfach einzusetzen. Man muss hier schon kluge Konzepte haben, wie Untersuchungen an Tieren dienlich sein können, um psychische Störungen des Menschen zu verstehen. Aber es geht. Ein Beispiel sind Suchterkrankungen: Auch Tiere werden süchtig! Aus dem Verständnis der gewonnenen grundlegenden biologischen Prozesse können wir neue Therapiestrategien für unsere Patienten herleiten. Ein weiterer herausragend wichtiger Baustein sind hochwertige Therapiestudien: Wenn ich die Mechanismen einer psychischen Erkrankung verstanden habe, gilt es, aus den Forschungserkenntnissen neue Therapieverfahren abzuleiten und zu prüfen, wie wirksam und sicher meine therapeutischen Überlegungen sind. Das geschieht in klinischen Studien, deren hohe Qualitätsstandards das ZI auszeichnen.

Und auch hier ein Beispiel?
Exemplarisch nennen möchte ich unsere klinische Studie zu Psilocybin, einem Wirkstoff aus halluzinogenen Pilzen, der bei Depressionen Erfolg verspricht, die jeder anderen Behandlung widerstehen. Das stößt aktuell auf sehr großes Interesse. Ein weiteres Beispiel ist unsere klinische Studie zu Oxytocin, dem sogenannten Liebes- oder Kuschelhormon, das womöglich eingesetzt werden kann, um die soziale Kompetenz bei Autismus-Spektrum-Störungen zu verbessern. 
Wir verfügen derzeit in der Psychiatrie über annähernd 120 Wirkstoffe – vor 70 Jahren war der psychiatrische Arzneischrank noch nahezu leer. Aber wir haben längst nicht genügend Medikamente – auf der Suche nach wirksamen Psychopharmaka müssen wir neue Wege gehen. 
Und nicht zuletzt geht es im Sinne des translationalen Konzeptes darum, dass ein neues Therapieverfahren, das sich in klinischen Studien bewährt hat, allen Patientinnen und Patienten schnell zugänglich wird. Damit beschäftigt sich die Versorgungs- oder Implementierungsforschung, ebenfalls ein historisch großer Schwerpunkt des ZI.

Die Künstliche Intelligenz hat als Forschungsinstrument auch in das ZI Einzug gehalten. Was kann die KI zu einem klassischen sprechenden medizinischen Fach wie der Psychiatrie beitragen?
Um diese Frage kümmert sich bei uns ein eigenes Institut, das im Frühjahr 2023 eröffnete Hector Institut für Künstliche Intelligenz in der Psychiatrie – eine enorm großzügige Stiftung des Ehepaares Hans-Werner und Josephine Hector. Das Ziel der Wissenschaftler in diesem Institut ist es, mithilfe der KI und eigens dafür entwickelter Algorithmen die Ursachen psychischer Erkrankungen aufzudecken.

Wie kann das gelingen?
Durch das Zusammenführen großer Datenmengen – aus der Klinik, aus der Forschung, aus der Bildgebung, aus dem, was uns Patientinnen und Patienten sagen. In der Flut biologischer, genetischer, umweltbezogener und biografischer Daten und Informationen kann die KI besser als der Mensch Muster erkennen – Signaturen, die auf die Ursachen psychischer Erkrankungen rückschließen lassen. Es war bislang nicht möglich, derart komplexe Datensätze zu analysieren. Die KI kann das in nie zuvor geahnter Weise. Grundsätzlich gilt hier: Je besser die Forschungsdaten sind, mit denen man die KI füttern kann, desto besser sind die Ergebnisse. Das Ziel ist es, für jeden einzelnen Patienten die passende Therapie und über das Verständnis individueller Risikofaktoren Ansatzpunkte für individuelle vorbeugende Maßnahmen herzuleiten.

Gibt es denn schon konkrete KI-Anwendungen mit einem fassbaren Nutzen?
Das ist sogar schon sehr konkret. Wir haben beispielsweise eine Studie, an der Jugendliche teilnehmen, die besonders gefährdet sind, psychisch zu erkranken. Wir untersuchen, was die Widerstandskraft der Jugendlichen stärken kann. Die KI hilft uns herauszufinden, welche Maßnahme auf welche Person individuell am besten passt. Das können weder die Betroffenen selbst noch ihre Ärzte sagen – aber mit den Daten der KI können wir gezielte Interventionen herausfiltern und für Übungen nutzen, die den Patienten mittels digitaler Anwendungen für das Smartphone, also Apps, übermittelt werden. Eine weitere Hector-Förderung gilt der Grundlagenforschung: Wie entwickelt sich das Gehirn, wie entstehen Nervenzellen, und wie verknüpfen sie sich?

Hat der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn bereits Früchte getragen?
Im Labor lassen sich beispielsweise in einer Nährstofflösung kleine Zellstrukturen entwickeln, die menschlichen Gehirnen ähneln – und zwar entwickelt aus Zellen, die wir aus dem Blut oder einer Haarprobe von Patienten gewinnen können. Damit haben diese neu gezüchteten Nervenzellen dasselbe genetische Material wie die Nervenzellen im Gehirn der Patienten. Diese sogenannten Organoide eignen sich zum Beispiel, um Medikamente zu testen, etwa für eine individuell maßgeschneiderte Pharmakotherapie. Das ist es, was wir letztlich erreichen wollen – eine Präzisionsmedizin, eine personalisierte Medizin: Jede Patientin, jeder Patient soll individuell bestmöglich behandelt werden. Auf diese Weise hoffen wir, die Gruppe derjenigen psychisch erkrankter Menschen, die man heilen kann, künftig erheblich zu vergrößern.

Das sind allesamt hoch spannende Einzelbereiche – wie lassen sie sich zum Wohle der Patienten zusammenführen?
Im ZIPP, unserem 2019 in der Mannheimer Innenstadt am ZI-Campus eröffneten Zentrum für Innovative Psychiatrie- und Psychotherapieforschung mit einer deutschlandweit einmaligen Infrastruktur. Vieles von dem, was wir besprochen haben, hat sich im ZIPP konkretisiert. Es ist ein in die Krankenversorgung eingebetteter Forschungsbau, dessen Auftrag lautet, Spitzenforschung und Spitzenmedizin für Menschen mit psychischen Störungen und damit zum Nutzen der Gesellschaft verfügbar zu machen. In den kommenden Jahren, da bin ich sicher, werden wir fundamental neue Erkenntnisse gewinnen – und die Therapie psychisch erkrankter Menschen und die psychische Gesundheit insgesamt deutlich verbessern.


Unser Interviewpartner

Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg studierte Medizin und Mathematik. Nach der medizinischen Promotion und der Facharztanerkennung in Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie arbeitete er in Bonn und Gießen sowie am National Institute of Mental Health in Bethesda, USA.

Seit 2007 ist Meyer-Lindenberg in Nachfolge von Fritz Henn Vorsitzender des Vorstands und Direktor des ZI. Er ist zugleich Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am ZI und Lehrstuhlinhaber seines Fachs an der Universität Heidelberg/Medizinische Fakultät Mannheim. Mit den Methoden der modernen Bildgebung erforscht Meyer-Lindenberg die Risiko- und Resilienzmechanismen schwerer psychiatrischer Erkrankungen und entwickelt daraus neue Therapie- und Präventionsansätze.

Die Fragen stellte Claudia Eberhard-Metzger.




Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) - https://www.zi-mannheim.de